Von Birgit Karg
Die illustre Reihe „Kabarettissimo“ steht für Kleinkunst im Premium-Format, und so durfte man sich auf einen außerordentlichen Abend freuen. Die Erwartungen wurden nicht enttäuscht: Ein schlaksiger Lockenkopf im pastellfarbenen Zweireiher erscheint. Spitzbübischer Charme, Schwiegermuttertyp. Doch da greift er in die Tasten, haut die erste Nummer raus im Polka-Takt: „Scheiß drauf, Hauptsache die Wirtschaft wächst“ eröffnet das Programm. Ein pralles Poem übers Wachstums-Paradigma auf dem Raubbau-Planeten. Schon nach den ersten Takten hat Ningel seinen Publikums-Chor samt geballter Fäuste.
Nach „Harmonie“ fahndet der promovierte Musiker in Musik, Kultur, Natur, Körper und Psyche und durchmisst dabei das Chaos in Kosmos und Gesellschaft. Harmonie als „die Kunst, Systeme in eine stimmige Ordnung zu bringen“ erleben die Zuhörer in pointierten Texten und virtuosen Liedern. Da geht es mit Ronan Keating („You say it best when you say nothing at all“) aufs Spargelfest in der Eifel, und eine kreischende Spargelschälmaschine wird zur Chaos-Metapher. „Mein Schnuckelhase macht grad Massephase“ ist ein Lied über „Körperoptimierer“, die zu Berserkern mutieren. Matthias Ningels Texte schaffen die Balance zwischen subtilem Humor und deftigen Pointen. Sein Vortrag reizt unterschiedliche Genres aus. Es gibt Beat-Grooves aus prallen Backen, Achtziger-Jahre-Feeling mit Synthesizer-Untermalung, Körperperkussion, Klangschale und diverse Kleininstrumente.
Die ganze Klaviatur akustischer Ausdrucksweisen bedient Ningel im Lied „Schicht um Schicht“, das die Geschichte eines Hauses anhand wechselnder Bodenbeläge in der Weltgeschichte verortet.
Ningels Texte offenbaren ungewöhnliche Perspektiven und scheinen zuweilen autobiografischen Charakter zu haben. So erleidet man mit dem Künstler schmerzhafte Nierenkoliken („Nierenstein“) und findet sich wieder in einer szenischen Action-Ballade über das hiesige Gesundheitswesen. Das Lied „Bildschirme“ über digitale Welterfahrung aus zweiter Hand, die unser aller Handeln und Denken lenkt, transferiert Platons Höhlengleichnis in die Jetztzeit.
Matthias Ningels Texte sind frisch und funkelnd und überzeugen mit klug ausgearbeiteten Ideen und geschliffenen Überleitungen. Dem Kabarett ist der nun 38-Jährige seit seiner Schulzeit in der Eifel verbunden. Seine jugendliche Leichtigkeit hat sich der mit Kleinkunstpreisen vielfach gekürte Brettl-Virtuose auch im aktuellen Programm bewahrt, das der Frage nachsteigt, was die Welt in Ordnung bringt.
Wie der Wortkünstler gesellschaftliche Phänomene in Musik überträgt, ist einfach grandios. Selbst Text- und Liedfragmente über Sauna-Ultras („Aufguss!“) und die „verlässliche Unsicherheit“ des bundesdeutschen Schienenwesens („Deutsche Bahn“) machen Lust auf mehr. Angesichts von Klima, Katastrophen, Krieg, KI und einem künftigen Kanzler Merz sei die Welt nur noch mit „Superheldenpower“ zu retten. Zwischen Fragment und vollendetem Werk fragt der Wortphilosoph nach Harmonie in der Gegenwart und definiert sich dabei bescheiden in der Formel „Kleinkünstler = Universaldilettant“. Gesellschaftliche Phänomene und menschliche Abgründe erscheinen mal im flotten Charleston („Urlaub“), oder er gießt Wörter mit Beatbox-Grooves in einen Blues („Ballade von der Bettpfosten-Betty“). Dass Menschenfeinde weder singen noch tanzen können, hat er in ein Lied gegossen: „Euch fehlt die Musik“ als inbrünstiges Plädoyer gegen Rechts lässt an Konstantin Wecker erinnern.
Der Abend klingt aus mit Beethovens Neunter und einer kollektiven Summ-Meditation der Europa-Hymne. Als Zugabe hat Matthias Ningel noch das Soziopathen-Kind „Karl-Leonhard“ im Gepäck, abgerundet von „Ilona“, einem Stück über das Alltags-Chaos in Büro und Beziehung.
Quelle
Ausgabe | Die Rheinpfalz Mittelhaardter Rundschau – Nr. 71 |
Datum | Dienstag, den 25. März 2025 |
Seite | 15 |