Neustadt-Mussbach. Welcher Teufel ist denn hinter dem her? Oder ist es ihm so wichtig, seine Meinung an Mann und Frau zu bringen, dass er sich beim Sprechen fast überschlägt? Bei einem einzigartigen verbalen Parforceritt hat Ingo Börchers am Freitagabend im Herrenhof alle Facetten des Ichs – auch im Wandel der Zeit – durchexerziert.
Den Zuhörern, die der Einladung von Kabarettissimo gefolgt waren, blieb kaum Zeit zum Atemholen, geschweige denn, das Gehörte zu reflektieren. Eifrig zollten sie dem Künstler am Ende Applaus für seine wahrlich gelungene Leistung.„Immer ich“, so lautet das Programm von Ingo Börchers. Wer ist Ich? Wer ist es, der oben steht, wer ist es, der unten sitzt? „Jeder hier im Saal ist ein Ich – der andere ein Sie oder Du.“ Und ist der auf der Bühne tatsächlich der Ingo Börchers, der er denkt zu sein? Diese philosophischen Ansätze bleiben im Raum hängen. Denn der Künstler ergeht sich gleich in der Bedeutung des Vornamens – „der ist identitiätsstiftend“ – für den Einzelnen. So habe eine Uschi bei dem Partnervermittler „Parship“ weniger „likes“ als eine Sophia, Christophs bekämen bessere Jobs als Kevins.Für jeden selbst zähle aber nur das eigene Ich. „,Ich bin, der ich bin’, hat Jesus gesagt. Bei Gloria Gaynor wurde daraus ,I am what I am’“. Bei Descartes heißt es „Ich denke, also bin ich“. Der Philosoph rücke damit das Gehirn in den Mittelpunkt, der Rest sei eine „zerebral angeschlossene Herz-Lungen-Maschine“. Dabei sei das Ich keine feste Einheit, sondern ein Prozess, bei Trump eine Maßeinheit, generell aber ein überschätztes Phänomen.
Heute platziere jeder sein Ich ins Netz, die Selfiestangen hätten bereits die Nordic Walking-Stöcke abgelöst. „Nimmt mich jemand wahr?“. Das ist nach Börchers die Frage, die sich jeder stelle. Selbstporträts waren früher Malern vorbehalten. „Wahrscheinlich hatte Dürer mal keine Idee, was er aufs Papier bringen könnte, hat in den Spiegel geschaut, sich gesehen und gemalt. Das erste Selfie mit vielen Followern war geschaffen.“ Heute werden allein in Deutschland 20 Millionen Selfies im Jahr ins Netz gestellt. „Werde ich geliked, dann bin ich. Besser überwacht als übersehen.“
Es sind zahlreiche und tiefe Denkansätze, mit denen Börchers sein Publikum konfrontiert. Allerdings bleibt kaum Zeit, um den einen oder anderen nachzuspüren. Schon prasseln neue auf die hochgereckten Köpfe nieder. „Was macht uns aus und an? Bin ich der Diener meines Chefs, das Opfer meiner Eltern?“.
Börchers weiß um die verschiedenen Schichten aus Materie, aus denen jeder Mensch besteht. Manchmal sei er sich so fremd, dass er sich sieze. Und wo gehört er hin? Mit seinen 45 Jahren ist er zu alt für Jugendsünden und zu jung für Altersweisheiten. In einem Exkurs berichtet der Bielefelder von seinen Schülerjahren – er sei immer der Liebling der Lehrer gewesen, höchst unangenehm –, von Papas und Mamas Verwandten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, von seinen Eigenheiten, wozu zählt, dass er auf der Rolltreppe stets ganz rechts steht, nicht einparken kann und niemals ein Dixie-Klo benutzen würde, außer in der allergrößten Not.
Die Welt habe sich extrem gewandelt, blickt der Kabarettist weiterschweifend auf seine Jugend zurück: Damals gab es feste Strukturen. Da lernte einer Bankkaufmann, machte Karriere, trat der FDP bei und spielte Tennis. Juristen und Mediziner gingen – klar erkennbar – in die Oper. Heute säßen dort Typen im Che Guevara-Look, und Kabarettisten unterhielten sich über ihre Handicaps. Ach, und die unendliche Vielfalt: Da gelte es zu entscheiden zwischen Chai Tea und Tai Chi, auszuwählen unter den Religionen, welche am besten zum Lifestyle passt, unter den Telefongesellschaften, welche den günstigsten Tarif anbietet. Schließlich werde die Verbindlichkeit durch die Erreichbarkeit ersetzt. „Das Smartphone hat Zeit und Raum an die Wand gefahren.“
Verändert hat sich in den Augen Börchers auch das Aufziehen von Kindern. „Mütter kaufen heute Dinkelbrezel und Maiswaffeln, die Väter auf dem Spielplatz verfüttern.“ Dass diese Maiswaffeln Auswirkungen auf die Darmflora von Ratten und streunenden Hunden und damit auf das Ökosystem der Innenstädte haben, ist seine feste Überzeugung. Statt ein Pflaster auf die Wunde zu kleben, wird nun dem verletzten Kind eine Portion Arnikakügelchen verabreicht. Kein Wunder, dass die Kleinen bei Hagel „es regnet Globuli“ rufen.
Klimawandel, Plastikmüll in den Weltmeeren, Gendermanie, Verschwörungstheorien, die Angst vor Flüchtlingen und immer mal wieder Trump, „der postfaktische Präsident mit dem riesigen Ego“, sind Themen, mit denen sich der Künstler eingehend beschäftigt. Nie verliert er aber sein eigentliches Anliegen, das Ich, aus den Augen. Was bedeutet es für die Identität, wenn einer sagt, er sei Deutscher und dabei – anders als ein Franzose – im Komparativ spricht? Ist heute das Auto ich-stiftend nach dem Motto „brumm ergo sum“? Die Thesen, Antithesen und Synthesen, die Ingo Börchers postuliert, sind genial. Am Ende möchte man ihm mit Goethe zurufen: „Verweil doch. Du bist so schön.“