Übergewichtige Jubilarin in Schwarz-Rot-Gold

Rheinpfalz, Kultur Regional

Satirische Zeitreise: Das Mainzer „Zeitgeist“-Ensemble „zappt“ sich bravourös durch 55 Jahre bundesrepublikanische Geschichte

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Ziemlich fett und träge sieht sie aus, die „Bundesrepublik Deutschland“, die sich da in Gestalt von Achim Stellwagen mit ihre Deutschen-Michel-Zipfelmütze verschlafen im schwarz-rot-goldenen Laken räkelt. Mit einem Medley aus „Einigkeit und Recht und Freiheit“ und „Auferstanden aus Ruinen“ eröffnet „sie“ den Abend, singt „Ich bin gut, ich bin reich, ich bin dick – ich bin die Bundesrepublik“, und man glaubt ihr gerne, dass sie mit ihren 55 Jahren mächtig in der Identitätskrise steckt. Die Heine-Sentenz von „Deutschland in der Nacht“ ist hier umgekehrt, denn es ist die Nation selbst, die sich in diesem Fall um den Schlaf gebracht sieht.

Und was tut man, wenn man nicht schlafen kann? Man lässt die Gedanken in die Vergangenheit schweifen, erinnert sich an Trümmerfrauen und Wirtschaftswunder, „Gastarbeiter“ und Mauerbau, Anti-Atom-Bewegung und Nachrüstung, an Parteispendenaffären und Kohls geistig-moralische Wende. „Alpträume einer Republik“ heißt denn auch das Programm, mit dem das an den „Mainzer Kammerspielen“ beheimatete „Zeitgeist“-Ensemble am Samstag im Mußbacher Herrenhof vorbeischaute. Und auch wenn sich das alles erst einmal unheimlich ernst, tief und deutsch anhört, geriet es doch zu einem Musikkabarettabend der Extra-Klasse.

Geschichte im Spiegel der jeweiligen musikalischen Moden zu interpretieren, ist nicht erst seit der neuen deutschen Pop-Literatur eine geläufige Methode. Für die „Zeitgeist“-Revue aus der Feder von Claudia Wehner jedenfalls wurde dieses Rezept zum Garanten für eine satirische Zeitreise mit hohem Unterhaltungswert, die ganz nebenbei auch ein wenig den Blick für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen schärfte. Vom Mauerbau ging“s da direkt zu den „Beatles“, von der Apo-Versammlung unvermittelt zu einem „Mama“ grölenden Heintje (wundervoll!) und vom anschwellenden Patriotismus der Wiedervereinigung zu Mariannes und Michaels „Unser Land“.

Dabei boten die drei Protagonisten – neben Stellwagen noch Brigitte Simons und Rino Galiano – nicht selten (Musik-)Parodien vom Feinsten. Stellwagen etwa war als Elvis, Udo Lindenberg, Guildo Horn ebenso wie als lüsterner Oswald Kolle oder nuschelnder Helmut Kohl eine Augenweide. Rino Galiano überzeugte als Heintje ebenso wie als Stefan Raab oder elastisch hüpfender Markus von der „Neuen Deutschen Welle“. Perfekt fingen die drei auch die Alltagsdiskurse der verschiedenen Epochen ein – vom Gutmenschen-Gelaber der friedensbewegten 80er bis zu den sprachliche Unzulänglichkeiten der heutigen MTV-Generation. Dazu wechselte das Trio auch noch ständig sein Outfit und gestaltete so eine überaus anschauliche Modenschau durch sechs Jahrzehnte.

Neben vielen schönen Details wie den gemalten Nylon-Strümpfen der Nachkriegszeit oder der Lady-Di-Hochzeitstasse überzeugten nicht zuletzt die szenischen Kabarettelemente. Der italienische Gastarbeiter (Galiano), der bei Conny Froboes“ „Zwei kleinen Italienern“ schnell die Flucht ergreift, Brigitte Simons, die als SDS-Aktivistin den Herrenhof-Festsaal zum besetzten Hörsaal umfunktioniert oder die Wiedervereinigung, bei der „die DDR“ in Person von Galiano im Laufstall ein verzweifeltes „Verdammt ich will dich“ von Matthias Reim anstimmt, um wenig später auf dem breiten Schoß der BRD (Stellwagen) zu landen – all das sorgte immer wieder für Lacher und spontanen Szenenapplaus.

Dabei geriet der Abend allerdings keineswegs zur reinen Lach-Show: Auch Nachdenkliches kam aufs Tablett. Von den Wendehälsen, die sich bei der Entnazifizierung bequem durchmogeln, bis zu den Übergriffe auf Ausländer und dem Ruf nach dem Benzinkanister zeigte die Revue auch einige Schattenseiten der bundesrepublikanischen (Erfolgs-)Geschichte.

Zum Schluss stimmt „die Republik“ alias Achim Stollwagen dann aber Frank Sinatras „I did it my way“ an mit der Strophe: „Trotz alledem denk“ ich gern zurück, ich hatte 50 Jahre Glück“ und einem Appell zu Gerechtigkeit, Toleranz und der Fähigkeit zu träumen. Dass klingt dann fast ein wenig pathetisch, tut in schwankenden Zeiten aber trotzdem irgendwie gut.

Von unserem Redakteur Holger Pöschl